Klara Klühs und das rote Fahrrad
Die Kirche füllte sich langsam mit Chormitgliedern. In allen Ecken wurde gesummt und verschiedene Stimmübungen waren zu hören. Knut Schlieker, der Inselpolizist, der einen wunderbaren Bass besaß,
machte Rotationsübungen. Pastor Harmsen hatte ihm erklärt, dass der Musculus vocalis darauf besonders gut anspräche, was die Flexibilität und Geschmeidigkeit der Stimmlippen erhöhe. Allerdings
wollte der Zungenrücken nicht immer so wie Knut Schlieker und produzierte mitunter drollige Töne. Eine Gruppe von Sängerinnen, allesamt aus dem Frauenkreis der Kirchengemeinde, machte
Lockerungsübungen für die Lippen. „Blblblblblblbl“ klang es vielstimmig aus ihrer Ecke und Klara wusste, dass sie da besser Abstand hielt, weil diese Übung für Zuhörer in unmittelbarer Nähe gerne
mal feucht endete. Klara nickte Hilde Schlieker kurz zu und bedeutete ihr, dass sie an das Buch gedacht hatte. Hilde quittierte das mit einem freundlichen Lächeln.
Dörte war noch nicht da, aber die kam gerne ein bisschen später als alle anderen. Um neunzehn Uhr dreißig sollte der Gottesdienst beginnen. Der Chor hatte bewusst viel Zeit zum Einsingen
mitgebracht, denn der Silvestergottesdienst war der wichtigste Auftritt im Jahr.
Pastor Harmsen kam auf Klara zu und begrüßte sie überschwänglich. „Eine Freude, dich zu sehen. Wir werden heute einen wunderschönen Gottesdienst feiern. Bin gespannt, was du zu meiner Predigt
sagst. Aber sei ruhig ehrlich. Du weißt, ich will auf keinen Fall pastoral klingen und schon gar nicht belehrend.“ Der Taufengel aus dem 18. Jahrhundert schwebte im Raum über der Szene und schien
ihr einen besonderen Segen zu geben. Alle in der Kirche wussten, dass Klara und Pastor Harmsen sich mochten. „Klaas“, sagte Klara, „du bist nun mal Pastor. Rede einfach so, wie du bist. Dann
glauben dir die Leute. Und wenn nicht, dann wird eben hinterher diskutiert. Du bist ja nicht unfehlbar, oder?“ Klara lächelte. Sie kannte diese Seite an Klaas Harmsen. Er war ein guter Prediger,
legte Worte und Gedanken oft auf die Goldwaage, hatte aber immer ein bisschen Furcht, missverstanden zu werden, weil er sich möglicherweise nicht klar genug ausdrückte. Insofern hielt ihn Klara
für gut evangelisch, klar im Bekenntnis, aber immer im Ringen um noch mehr Genauigkeit. Auch sie hatte ja dieses Faible für Sprache und merkte sehr schnell, wenn jemand den richtigen Gedanken
hatte, die passenden Worte dafür aber nicht fand. Daran konnte sie richtig leiden.
„Weißt du, wo Dörte bleibt?“ Pastor Harmsen blickte Klara fragend an.
„Die wird schon kommen“, rief Knut Schlieker von hinten. Offenbar hatte er zugehört. Das ganze Gespräch? „Die war gestern noch im Godewind und ist eine der letzten gewesen. Wahrscheinlich kommt
sie wieder auf den letzten Drücker.“
Um neunzehn Uhr fehlte Dörte immer noch und Pastor Harmsen wurde unruhig. Klara hatte mittlerweile zweimal versucht, sie auf dem Handy zu erreichen. Doch alle wussten, dass Dörte ihr Handy selten
bei sich trug. Meistens hatte sie es irgendwo abgelegt und fand es erst Stunden, manchmal sogar Tage später wieder.
Auch zu Beginn des Gottesdienstes war Dörte nicht da und die Unruhe bei Klara, Pastor Harmsen und den anderen wuchs. Denn Dörte mochte zwar unpünktlich sein, aber unzuverlässig war sie nicht.
Pastor Harmsen spielte kurz mit dem Gedanken, den Gottesdienst abzublasen und nach Dörte zu suchen, aber Knut Schlieker verwies darauf, dass es vermutlich eine ganz normale Erklärung für Dörtes
Fernbleiben gebe. „Das wird sich schon klären“, sagte er. „Und die meisten Sorgen macht man sich umsonst.“ Hilde Schlieker nickte eifrig. Ihr Mann musste es schließlich wissen.
Also begann der Gottesdienst. Die Predigt fand Anklang, aber dennoch lag ein beklemmendes Gefühl über der versammelten Gemeinde und der Chor klang verunsichert.